15h work week: Mein Experiment als selbstständiger Familienvater

Ich war gerade wieder mit Felix spazieren. Immer wenn ich Glück habe, schläft er im Kinderwagerl ein und ich kann ca. eine Stunde etwas arbeiten. Ein paar Emails beantworten, einen Blogpost schreiben, ein Coaching-Vorgespräch führen oder was auch immer gerade ansteht. Manchmal einfach nur einkaufen, kochen oder Wäsche waschen.

Heute ist wieder Papa-Tag. So wie jeden Montag, Dienstag und Donnerstag. Judith, meine Traumfrau und die Mutter unseres 15 Monate jungen Traumprinzen, unterrichtet seit September letzten Jahres wieder an ihrer Schule. Seither teilen wir uns Haushalt, Arbeits- und Elternzeit 50:50. Mit dem Start des zweiten Semesters hat sie nun noch einen dritten Unterrichtstag dazubekommen. Und ich noch mehr Zeit mit Felix gewonnen. Einerseits ist es ein großes Privileg, so viel Zeit mit ihm verbringen zu dürfen, andererseits gibt es Momente, in denen ich mir mehr Zeit für meine Selbstständigkeit und berufliche Verwirklichung wünschte. 

"Slow down to speed up"
Dieser Umstand und die Aussicht auf ein sehr intensives Frühjahr voller Papatage und Arbeitsabende machte mich nach Weihnachten ziemlich unrund. Weniger Zeit mit Felix war keine Option, deshalb sah ich nur einen Ausweg: Meine Arbeitszeit stark zu reduzieren. Und so führte ich mit 1.1.2020 nach dem Prinzip von Tim Ferris die 15-Stunden-Arbeitswoche für mich ein. (Zugegebenermaßen werden es manchmal 20 - die von ihm propagierte "4 hour work week" dient mir als utopisches "Shoot for the moon".) Erst mal als Experiment und mit Option auf Adaptierung und Verlängerung. 

Was mir in der ersten Woche noch Kopfzerbrechen bereitete und Angst machte (Wie soll sich das ausgehen? Wo soll das Geld herkommen? Leiste ich genug?), stellte sich schon bald als großartige Entscheidung heraus. Ich fokussiere mich auf das Wesentlichste und versuche, mögliche Störfaktoren und Ablenkungen außen vor zu lassen: Keine überflüssigen Meetings, keine Adabei-Events, kein oberflächliches Networking, keine Kalt-Akquise, keine unnötigen Emails, Nachrichten oder Telefonate, keine neuen Konzepte und allen voran: keine Social Medias. Für mich als üblicherweise sehr aktiven Blogger und Poster hatte das in der ersten Woche etwas von Entzug, ab dann war es allerdings nur mehr angenehm und bereichernd.

Ich habe mich viel weniger ablenken lassen und viel Zeit für mich und meine Familie gewonnen.

Gesetz der Anziehung & Mut zum Nein
Und weißt du, was spannend ist? Ich habe in diesen Wochen so viele Anfragen bekommen wie schon lange nicht mehr, u.a. für meine ersten Online-Coachings nach der Empfehlung von Buffer-Gründer Leo Widrich in seiner internationalen Top 10 Coaches List.

Nur mehr 15 Stunden pro Woche zu arbeiten, bedeutet für mich auch, zu allem Nein zu sagen, das nicht meiner Mission entspricht, wie zuletzt zB zu der Einladung von Puls 4 in ihre Talkshow "Sehr witzig!?". Mein Ego hätte sich zwar im ersten Moment mit einem Auftritt im Fernsehen gerne streicheln lassen, aber mein Selbst hat das schnell erkannt und abgesagt. Ich möchte nur mehr Aufträge annehmen, die für mich Sinn machen. Abgesehen davon bin ich so ziemlich der schlechteste Witzeerzähler, den du dir vorstellen kannst. Erstens kann ich mir keine merken und zweitens versemmle ich jede Pointe.

Qualität vor Quantität
Nach sechs Wochen ziehe ich nun ein erstes Fazit. Die Umstellung hat mich nicht nur zufriedener und gelassener gemacht, sondern genau so erfolgreich. Ich verliere mich nicht mehr in unnötigem Tun, sondern gewinne viel Zeit im Sein, für mich, meine Beziehung, unseren Sohn und unsere Freunde. Durch die Reduzierung der Arbeitsstunden bin ich (gezwungenermaßen) auch viel produktiver geworden. Mehr als 3-4 Stunden an vollem Fokus pro Tag ist bei mir einfach nicht drin. Mal ganz ehrlich:

Wie lange kannst du wirklich produktiv sein und ab wann sitzt du nur mehr Zeit ab? 

In diesen 3-4 Stunden bin ich dafür auch unansprechbar (was Judith oft ärgert). In dieser Zeit ist mein Büro zugesperrt, mein Handy auf lautlos und mein Email-Programm geschlossen. Aus der Neurobiologie wissen wir mittlerweile, dass du nach jeder Ablenkung (zB durch Handyläuten, eine kurze Nachricht schreiben, Smalltalk mit einem Mitarbeiter usw. ...) ca. 17 (!) Minuten brauchst, um wieder in den selben konzentrierten Zustand zu kommen wie davor. Beobachte mal, wie oft du dich von Kleinigkeiten ablenken lässt und addiere es mal 17 - wie viel Arbeitszeit könntest du dir sparen?

Durch Anhebung meines Honorars habe ich zwar weniger Aufträge, aber unterm Strich (fast) das selbe Einkommen. Dadurch kommen auch nur mehr jene Menschen in mein Coaching, die es wirklich ernst meinen und die unbedingt mit mir arbeiten wollen. Und umgekehrt mache ich auch nur mehr maximal zwei Sessions (á 90 Minuten) pro Tag, um meinen Klienten die nötige Präsenz bieten zu können, die es braucht, um wirklich tiefer gehen zu können.

Auf die Inszenierung meiner selbst und die der anderen auf Instagram verzichte ich nach wie vor, auf Facebook und LinkedIn bin ich zwar wieder zurück, aber nur mehr punktuell und aktiv auf meinem MacBook anstatt wie früher oft passiv und durchscrollend auf meinem iPhone. Nachrichten schreibe ich nicht mehr sofort zurück, sondern geballt zwei Mal am Tag. 

Die Selbstständigkeit ist Fluch und Segen zugleich. Du musst nie arbeiten, aber kannst immer.

Die Frage ist nur, welches Pensum dir gut tut, wie lange du produktiv sein kannst und wie viel Geld du wirklich brauchst?!

Vater zu sein hingegen ist ein einziger Segen, ein Traum und die schönste Aufgabe, die ich mir vorstellen kann. Ja, natürlich gibt es genug intensive Herausforderungen und auch Momente, die mich  sehr fordern, manchmal auch überfordern. Aber auch die erfüllen mich. Daran darf ich wachsen. Außerdem ist diese Aufgabe temporär, zumindest in dieser Intensität. Wenn Papas älterer Kinder etwas bereuen, dann oft, dass sie die ersten Lebensjahre ihrer Kinder zu wenig für sie da waren. In dem Zeitraum, wo man so Vieles beisteuern und am meisten von ihnen lernen kann.

Arbeiten und Geld verdienen kann ich mein Leben lang. Meine Kinder beim Aufwachsen begleiten nur in den nächsten Jahren.

An dieser Stelle auch noch ein fettes Danke an Judith, die in ihrer Rolle als Mutter, Lehrerin, Hausfrau und Partnerin mindestens genau so gefordert ist wie ich. Wahrscheinlich sogar am meisten von mir. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mit den gleichermaßen geteilten Haushaltsverpflichtungen auch ein bisschen geschummelt - beim Putzen und Kochen hat sie doch die Nase vorn. Dem Bild der modernen Frau im Jahr 2020, die alles - und das noch möglichst perfekt - machen sollte, gerecht zu werden, ist erstens nicht normal und zweitens auch nicht möglich. Ich ziehe den Hut vor allen Frauen, die für ihre Kinder da sind und den Haushalt alleine schmeißen. Und noch viel mehr von den Alleinerziehenden! Laut einer Statistik investieren Mütter im Schnitt 80 Stunden pro Woche für ihre Kinder und den Haushalt und haben 1,2 Stunden pro Tag Zeit für sich selbst...

Ich wünsche dir, dass auch du dich auf das für dich Wesentliche konzentrieren kannst und keine Zeit absitzen oder verschwenden musst. Ich wünsche  dir, dass auch du möglichst viel Zeit mit deiner Familie, deinen Freunden und den Dingen, die dir wirklich wichtig sind, verbringen kannst. Ich wüsche dir, dass du das machen kannst, was dich am meisten interessiert und begeistert. Ich wünsche dir eine schöne Fastenzeit.

Wovon weniger würde dir gut tun? Was an mehr würde dafür in dein Leben kommen?

Peter Hackmair